Menschenrechte und Städte
Auch Städte tragen eine Verantwortung für die Menschenrechte. Ohne lokales Engagement lässt sich ein breites Spektrum an Menschenrechten nicht verwirklichen. Je besser Städte ihre Möglichkeiten nutzen, desto wirksamer lassen sich soziale Ungleichheit und Ausgrenzung bekämpfen, Solidarität und ein friedliches Zusammenleben fördern. Aber nicht nur die Menschenrechte profitieren, wenn sich Städte mehr und mehr auf sie beziehen. Auch für die Stadt entsteht ein großer Mehrwert, wenn sie sich in ihrem Handeln gezielt an den Menschenrechten orientiert. Menschenrechtsstädte gehen dabei voran. Sie bemühen sich, ihr Handeln möglichst zielgerichtet, wirkungsvoll und nachhaltig an den Menschenrechten auszurichten und schaffen sich hierfür einen übergreifenden Rahmen.
Überblick
Menschenrechtliche Verantwortung von Städten
Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten ist Aufgabe aller Regierungs- und Verwaltungsebenen. Somit müssen auch Städte in ihren Kompetenzbereichen dafür sorgen, dass menschenrechtliche Verpflichtungen umgesetzt werden, die der Staat mit dem Beitritt zu internationalen Abkommen übernommen hat. Einige dieser Dokumente, wie etwa die ↓ UN-Kinderrechtskonvention oder die ↓ Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wenden sich ausdrücklich auch an lokale Regierungen und Behörden. In Deutschland sind Städte und Gemeinden außerdem durch das Grundgesetz verpflichtet, die Menschenrechte zu achten; sie sind, wie Bund und Länder, „grundrechtsverpflichtet“.
Dass Städte zuständig sind für die Gestaltung der Lebensverhältnisse vor Ort, verschafft ihnen in einer Vielzahl von → Themenfeldern wichtige menschenrechtliche Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören zum Beispiel Bereiche wie Bildung und Kinderbetreuung, Wohnen, Gesundheit, Umwelt- und Klimaschutz, der Zugang zu Kultur, die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, die Sicherheit im öffentlichen Raum, die Rechte von Kindern, der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen und aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität sowie die Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und Nationalitäten, frei von Diskriminierung und Rassismus.
Städte müssen sich besonders um solidarische politische Lösungen bemühen.
Weil Städte unmittelbarer als die höheren, „alltagsferneren“ Staatsebenen konfrontiert sind mit den negativen Folgen unzureichender Verwirklichung von Menschenrechten, sozialer Ungleichheit, prekären Lebensverhältnissen sowie einem abnehmenden Zusammenhalt in einer immer heterogeneren Gesellschaft, müssen sie sich besonders um solidarische politische Lösungen bemühen. Dies kann sie veranlassen, zu bestimmten Themen – etwa Migration – Politiken zu verfolgen, die stärker an den Menschenrechten orientiert sind als die nationale, europäische oder internationale Politik.
Ihre Verantwortung für die Menschenrechte kann eine Stadt in verschiedenen Rollen wahrnehmen:
- Die Stadt ist Dienstleisterin: Ihre Dienstleistungen müssen für alle Stadtbewohner*innen gleichermaßen verfügbar, zugänglich, angemessen und angepasst sein.
- Die Stadt ist Ort demokratischer Beteiligung: Auf lokaler Ebene kann das Menschenrecht auf Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten am unmittelbarsten ausgeübt werden.
- Die Stadt ist Arbeitgeberin: Städtische Verwaltung und städtische Unternehmen können eine Vorbildfunktion übernehmen in der Einhaltung menschenrechtlicher Standards, z.B. durch die Auswahl von Personal, das in seiner Zusammensetzung die Diversität der Stadtgesellschaft widerspiegelt.
- Die Stadt ist öffentliche Auftraggeberin: Städtische Beschaffer*innen verfügen über Spielräume, die sie für eine sozial verantwortliche Beschaffung unter Einhaltung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten proaktiv nutzen können.
- Die Stadt ist Gestalterin des örtlichen Rechtsrahmens: Mit den rechtlichen Regelungsinstrumenten, die ihr für die Erfüllung eigener und übertragener Aufgaben zur Verfügung stehen, kann die Stadt dafür sorgen, dass menschenrechtliche Standards in den verschiedenen Aufgabenbereichen verankert werden.
- Die Stadt ist internationale Akteurin: Sie kann den Menschenrechten auch in ihren internationalen Beziehungen und Kontakten, in ihren Partnerschaften mit anderen Städten und in ihrem Engagement in Städtekoalitionen und -netzwerken einen zentralen Platz einräumen.
In der Praxis gehen Städte ständig mit den Menschenrechten um, oft unbewusst oder ohne sich ausdrücklich auf sie zu beziehen. Kommunale Politik und Verwaltung, Kitas und Schulen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Wohnheime sowie städtische Betriebe treffen Entscheidungen oder setzen Entscheidungen um, die die Rechte der in der Stadt lebenden Menschen berühren. Wie sie dabei vorgehen, hat einen starken Einfluss darauf, ob, in welchem Ausmaß und wie diskriminierungsfrei die Bewohner*innen der Stadt in ihrem Alltag ihre Rechte wahrnehmen können.
Mehrwert für die Stadt…
Sich an den Menschenrechten zu orientieren nützt Städten auf vielfältige Weise. Für die Analyse der Lebenslagen der Bewohner*innen der Stadt und ihrer Veränderung liefern die Menschenrechte wichtige Prüfsteine, Qualitätsmaßstäbe und Indikatoren. Der Stadtpolitik können sie als Bezugsrahmen und Inspiration dienen, insbesondere bei der Zuteilung von Ressourcen und dem Ausgleich von Interessen, denn städtische Entscheidungen müssen den Bedürfnissen und Erwartungen einer zunehmend vielfältigen Bevölkerung gerecht werden.
Eine besondere Qualität der Menschenrechte ist, dass sie breit geteilte Wertüberzeugungen repräsentieren. Sie haben eine verbindende Kraft und bringen viele Akteur*innen und Interessen auf lokaler Ebene zusammen. Sie stimulieren neue Arbeitsbeziehungen und Kooperationen, sowohl unter verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Gruppen als auch zwischen ihnen und der städtischen Politik und Verwaltung.
Ein starker Fokus auf die Menschenrechte sorgt für eine gerechtere und stabilere städtische Ordnung.
Menschenrechte sind Standards mit einer integrierenden Wirkung. Die Verwirklichung der Menschenrechte in der Stadt stärkt den*die Einzelne*n und lässt daraus eine stärkere Stadtgesellschaft entstehen. Eine Stadt mit weniger sozialer Exklusion beispielsweise ist nachhaltiger, solidarischer, bietet mehr Lebensqualität und benötigt weniger Ressourcen für Problembewältigung. Mit anderen Worten: Ein starker Fokus auf die Menschenrechte sorgt für eine gerechtere und stabilere städtische Ordnung. Dies wiederum schärft das Bewusstsein für den Wert lokaler Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung.
Der städtische Bezug auf die Menschenrechte kann außerdem einen Wirtschaftsfaktor darstellen. Er sorgt für eine positive Außenwahrnehmung (z.B. als kosmopolitische, vielfältige, auf sozialen Ausgleich bedachte Stadt), verschafft nationale und internationale Anerkennung sowie Zugang zu Fördermitteln und Netzwerken mit gleichgesinnten Städten.
…und Mehrwert für die Menschenrechte
Umgekehrt profitieren auch die Menschenrechte und das internationale Menschenrechtssystem, wenn sich Städte mehr und mehr an den Menschenrechten orientieren. Ein breites Spektrum an Menschenrechten kann ohne aktives lokales Engagement gar nicht verwirklicht werden.
Ohne aktives lokales Engagement ist die Verwirklichung eines breiten Spektrums an Menschenrechten nicht möglich.
Es gibt auch kaum bessere Möglichkeiten für die praktische Vermittlung der Bedeutung der Menschenrechte als auf der lokalen Ebene. Lokal wird nicht nur der Grad der Realisierung oder Vorenthaltung vieler Menschenrechte sichtbar. Lokal wird auch konkret erfahrbar, dass durch ein menschenrechtsbasiertes Vorgehen Gestaltungsmöglichkeiten erweitert werden – für die alltägliche Problemlösung und für ein Leben in Würde aller Menschen – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer ethnischen, kulturellen und religiösen Identität, von ihrer sozialen Herkunft und Lage. Gerade in wohlhabenden Ländern wie Deutschland ist die Meinung verbreitet, Menschenrechte seien etwas Abstraktes, Internationales, das für das eigene Leben und für den Ort, an dem man lebt, nicht relevant ist. Städte, die Verantwortung für die Menschenrechte übernehmen, können diese falsche Vorstellung verändern.
Auch die Formen von Menschenrechtspraxis werden in Städten bereichert. Denn Menschenrechte werden nicht hauptsächlich durch richterliche Entscheidungen verwirklicht, sondern vor allem in den täglichen Begegnungen zwischen Behörden, Polizeibeamt*innen, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und anderen „Pflichtenträger*innen“ auf der einen Seite und den Bürger*innen („Rechteinhaber*innen“), denen sie dienen, auf der anderen Seite. Beim Menschenrechtsschutz in Städten geht es viel öfter um ein von verschiedenen Akteur*innen gemeinsam getragenes und schrittweises Bemühen, den Menschenrechten lokal einen konkreten Inhalt zu geben, als darum, Rechte in juristischen Auseinandersetzungen einzufordern. Dabei entstehen Ideen, innovative Lösungen und neue Erfahrungen, die zum Gegenstand eines Wissenstransfers werden, zwischen den Städten sowie von der lokalen Ebene „nach oben“, innerhalb des Staates und international.
Nach Wegen zu suchen, wie Menschenrechte mit städtischem Handeln noch wirkungsvoller verbunden werden können, ist schließlich auch deshalb wichtig, weil die Menschenrechte nie als gegeben angesehen werden dürfen. Menschenrechtsverteidiger*innen sind heute in vielen Staaten immer stärker gefährdet. Auf internationaler Ebene versuchen autoritäre Regime gezielt, das universelle System der Menschenrechte zu beseitigen. Die Demokratie und die offene Gesellschaft müssen gegen extremistische Angriffe verteidigt werden. Städte, engagierte Bürgermeister*innen und mutige lokale Abgeordnete bilden immer öfter einen Gegenpol zu nationalistischen und rechtspopulistischen nationalen Regierungen und zu internationalen Entwicklungen, durch die Menschenrechte infrage gestellt oder verletzt werden.
Internationale Trends
Die Zahl der Städte, die sich in wichtigen lokalen Themenfeldern ausdrücklich auf die Menschenrechte beziehen, steigt. Schon länger bestehende internationale Städtenetzwerke wie die ↑ Globale Plattform für das Recht auf Stadt, die ↑ Europäische Städtekoalition gegen Rassismus (ECCAR), die ↑ UNICEF-Initiative Kinderfreundliche Städte (CFCI) oder das ↑ Rainbow Cities Network (RCN) bauen ihre Aktivitäten aus. Neue Zusammenschlüsse wie die ↑ Städtekoalition für Digitale Rechte, das Netzwerk ↑ Interkulturelle Städte oder ↑ Cities for Adequate Housing sind in jüngerer Zeit hinzu gekommen.
Bereits im Jahr 1998 hatte eine Gruppe von Städten in Barcelona die Europäische Konferenz Städte für die Menschenrechte gegründet – ein loses Netzwerk, dessen im Jahr 2000 verabschiedete ↓ Europäische Charta für den Schutz der Menschenrechte in der Stadt bislang von mehr als 350 Städten unterzeichnet worden ist. Auch der weltweite ↑ Dachverband von Städten und Gemeinden (UCLG) mit seinem ↑ Ausschuss für soziale Inklusion, partizipative Demokratie und Menschenrechte (CSIPDHR) macht sich schon seit vielen Jahren für die Förderung und Stärkung der Menschenrechte in Städten stark. Die von UCLG 2012 verabschiedete ↓ Global Charter-Agenda for Human Rights in the City steht aktuell im Mittelpunkt einer ↑ globalen Kampagne und wird für das zehnjährige Jubiläum 2022 überarbeitet und weiterentwickelt.
Die Vereinten Nationen und die EU schauen immer stärker auch auf Städte, um die Menschenrechte zu stärken.
Besonders wichtig ist, dass seit einigen Jahren die internationalen Organisationen, die für den Menschenrechtsschutz eine besondere Verantwortung tragen, immer stärker auch auf Städte schauen, um die Menschenrechte gemeinsam zu stärken. In einem im Auftrag des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen erstellten ↓ Bericht hat der UN-Hochkommissar für Menschenrechte 2019 eine Reihe von Empfehlungen für lokale Regierungen formuliert. Er rät ihnen, innovative Wege zur Umsetzung der Menschenrechte auf lokaler Ebene zu erkunden, zum Beispiel:
- durch Selbstevaluierungen ein klareres Bild ihrer Menschenrechtspraxis zu gewinnen und Gesetze, Politiken und Programme „evidenzbasiert“ zu gestalten
- Beschwerdemechanismen zu entwickeln, die sich mit den Menschenrechten auf lokaler Ebene befassen
- Initiativen zur Sensibilisierung für die Menschenrechte und zur Menschenrechtsbildung zu ergreifen sowie zur Stärkung der Menschenrechtskompetenz von lokalen Verwaltungsbediensteten
- sich mehr im Rahmen des Menschenrechtsschutzsystems der UN zu engagieren, einschließlich der Zusammenarbeit mit Fachausschüssen und der Mitwirkung am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren sowie an Sonderverfahren.
Der UN-Menschenrechtsrat hat daraufhin in einer ↓ Resolution den Hochkommissar beauftragt, bis September 2022 einen Bericht zu erstellen über die Rolle der Kommunen bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte, mit dem Ziel Grundsätze zu entwickeln, die Kommunalverwaltungen und nationale Regierungen dabei künftig leiten sollen.
In der Europäischen Union ist die lokale Verwirklichung der Menschenrechte insbesondere für die ↑ Agentur der EU für Grundrechte (FRA) ein Thema. Sie hat 2014 einen ↓ Leitfaden für Kommunal- und Regionalbehörden zur Umsetzung der ↓ Charta der Grundrechte der Europäischen Union entwickelt, die die Rechte und Freiheiten der Menschen kodifiziert, die in der EU leben. Die Europäische Kommission hat Ende 2020 eine ↓ Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU veröffentlicht, in der die gemeinsame Verantwortung von nationalen und lokalen Behörden bei der Förderung und dem Schutz von Rechten aus der Charta betont wird. Die FRA arbeitet aktuell an Mindeststandards für Menschenrechtsstädte, die sie im Laufe des Jahres 2021 vorlegen will.
Früh hat der Europarat durch seinen ↑ Kongress der Gemeinden und Regionen begonnen, sich mit der Rolle der Städte bei der Umsetzung der Menschenrechte auseinanderzusetzen. Schon 2011 wurden ↓ Indikatoren zur Schärfung des Bewusstseins für die Menschenrechte auf kommunaler und regionaler Ebene entwickelt, und 2014 wurde eine erste ↓ Sammlung von Best Practices der Umsetzung von Menschenrechten auf kommunaler und regionaler Ebene vorgelegt. Dabei wurde eine Vielzahl von Feldern behandelt, z.B.:
- die Einrichtung von unabhängigen Ombudsman-Institutionen für Menschenrechte
- die Menschenrechtsausbildung bei der Polizei
- die Bekämpfung von häuslicher Gewalt
- die Gewährleistung von Bildung für alle
- die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit
- die psychische Gesundheitsversorgung
- die Unterstützung von Obdachlosen
- die Förderung des interreligiösen Dialogs.
Inzwischen liegen auch zwei Menschenrechts-Handbücher des Europarats für die lokale und regionale Ebene vor. Der erste Band (2019 veröffentlicht) legt den Schwerpunkt auf die ↓ Bekämpfung der Diskriminierung von Geflüchteten, Asylsuchenden, Migrant*innen und Binnenflüchtlingen, von Sinti und Roma sowie von Lesben, Schwulen, Bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Der zweite Band (2020) ist den ↓ sozialen Menschenrechten gewidmet – den Rechten auf Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, soziale Sicherheit und Wohlfahrt sowie auf soziale Inklusion und Integration. Weitere Bände sind geplant.
Was es heißt, „Menschenrechtsstadt“ zu sein
Eine Menschenrechtsstadt ist eine Stadt, die sich in ihrem Handeln in besonderer Weise auf die Menschenrechte bezieht und sich in einer formellen Erklärung dazu verpflichtet, menschenrechtliche Standards und Prinzipien zu beachten und in ihre Planung und Rechtsetzung, in Leitlinien, Konzepte und Aktionspläne zu integrieren. Globale und regionale Menschenrechtsinstrumente wie die ↓ Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die ↓ Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dabei wichtige Bezugspunkte. Menschenrechtsstadt zu sein ist somit formal betrachtet eine Selbstzuschreibung. Es gibt keine internationale oder nationale Instanz, die dieses Etikett verleiht und an bestimmte Kriterien bindet, und bislang auch keine, die überprüft, ob das Etikett zu Recht getragen wird. Sich zur Menschenrechtsstadt zu deklarieren, bringt auch keine neuen rechtlichen Verpflichtungen mit sich, zusätzlich zu denen, die für Städte im staatlichen Gesamtrahmen sowieso gelten.
Menschenrechtsstadt zu werden oder zu sein ist ein lokal getragener stadtpolitischer und stadtgesellschaftlicher Prozess.
Jedoch bleibt es nicht bei der Symbolik. Menschenrechtsstadt zu werden und zu sein ist vor allem ein lokal getragener stadtpolitischer und -gesellschaftlicher Prozess. Bürger*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Politik, Verwaltung und weitere städtische Einrichtungen arbeiten zusammen, um die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte aller Einwohner*innen tatsächlich als Priorität im städtischen Leben zu verankern. Auf diese Weise entstehen nach und nach immer mehr konkrete praktische Wirkungen für die Menschen und für das Zusammenleben in der Stadt.
Neben der Verabschiedung einer Erklärung mit einem Bekenntnis zu den Menschenrechten und der Selbstdeklaration zur Menschenrechtsstadt sind es hauptsächlich vier Schlüsselmerkmale, die Menschenrechtsstädte kennzeichnen:
- Die Anwendung des Menschenrechtsansatzes in der Analyse und Bearbeitung lokaler Problemstellungen. Dabei kann es um eine Gesamtstrategie gehen oder um einzelne Handlungsfelder. Ihre Gesamtstrategie als Menschenrechtsstadt hat zum Beispiel die Stadt ↓ Barcelona beschrieben.
- Die Schaffung einer institutionellen Struktur, mit speziellen, angemessenen personellen und finanziellen Ressourcen, die es ermöglicht, die Menschenrechte zu mainstreamen, d.h. zu einem zentralen Bestandteil bei allen städtischen Entscheidungen und Prozessen zu machen. Das kann z.B. ein Menschenrechtsbüro wie in → Nürnberg und → Wien oder ein*e Menschenrechtsbeauftragte*r sein.
- Die Einrichtung eines beratenden Menschenrechtsgremiums mit Mitgliedern aus der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und anderen Interessengruppen, die die Vielfalt der lokalen Bevölkerung und der Stadtgesellschaft widerspiegeln. Ein Beispiel ist der → Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz.
- Die Analyse der Ist-Situation (Baseline) in menschenrechtlich relevanten Themenfeldern, die Nutzung der Ergebnisse zur Erstellung eines Aktionsplans, das Monitoring der Umsetzung in einem partizipativen Prozess sowie die Berichterstattung über Wirkungen. Solche Analysen und Berichte gibt es z.B. aus ↓ Utrecht, → Graz und → York. Das Raoul Wallenberg Institute hat ↓ Indikatoren für Menschenrechtsstädte entwickelt.
Was ist ein „Menschenrechtsansatz“?
Einen Menschenrechtsansatz zu verfolgen bedeutet, die Anerkennung, den Schutz und die Gewährleistung der Rechte aller Menschen und menschenrechtliche Prinzipien wie Nichtdiskriminierung, Partizipation, Transparenz und Rechenschaft zum Mittel und zum Ziel des Handelns zu machen. Der einzelne Mensch als Träger*in von Rechten steht im Zentrum. Der Menschenrechtsansatz konzentriert sich besonders auf Menschen in verletzlichen Lebenslagen, denen eine gleichberechtigte und umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist. Er trägt zu ihrem Empowerment bei und verstärkt Mechanismen der Verantwortung, die alle Träger öffentlicher Belange auf allen staatlichen Ebenen haben. Um Problembereiche besser zu identifizieren, werden sie mit menschenrechtlichen Anspruchsniveaus abgeglichen. Strategien werden an den Menschenrechten ausgerichtet, ihre Umsetzung an menschenrechtlichen Vorgaben gemessen. In den Fokus rücken ungerechte Strukturen und nicht erfüllte Pflichten. Der Menschenrechtsansatz kann eine Gesamtstrategie bezeichnen oder sich auf einzelne Handlungsfelder beziehen (z.B. Menschenrechtsansatz in der Gesundheitspolitik, der Bildungspolitik, der Behindertenpolitik, der sozialen Arbeit sowie menschenrechtsbasierte Klima, Asyl- und Migrationspolitik). Insgesamt ermöglicht der Menschenrechtsansatz ein zielgerichteteres Vorgehen und umfassendere politische Reaktionen, um sicherzustellen, dass alle Menschen gleichberechtigt und tatsächlich in den Genuss ihrer Rechte und Freiheiten kommen.
Das Konzept der Menschenrechtsstadt ist offen und flexibel. So kann jede Stadt dem Label ihren eigenen lokalen Inhalt geben: Prioritäten setzen und einen Kern von Bedeutung und Praxis herausarbeiten, der mit der eigenen besonderen Geschichte und Situation im Einklang ist. Solchen Unterschieden Raum zu geben ist ein Schlüsselaspekt der „Lokalisierung“ der Menschenrechte.
Entsprechend vielfältig ist die Landschaft der Menschenrechtsstädte. Die Themen und Schwerpunkte, die Menschenrechtsstädte vorrangig angehen, sind von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Allen gemeinsam ist ein besonderer Fokus auf menschenrechtliche Prinzipien wie Nichtdiskriminierung und Partizipation. Dies wird oft verbunden mit einem verstärkten Engagement im Bereich der Menschenrechts-, der historisch-politischen und der interkulturellen Bildung.
Morten Kjaerum, Direktor des → Raoul Wallenberg Institute in Schweden und zuvor Direktor der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, erklärt das Konzept „Menschenrechtsstadt“.
Warum es besonderen Wert hat, Menschenrechtsstadt zu sein
- der systematischeren Orientierung – bei der Diagnose von Problemen sowie bei der Entwicklung und Umsetzung von Lösungen – an menschenrechtlichen Standards und Prinzipien (Nichtdiskriminierung, Partizipation, Rechenschaft, Transparenz)
- der Schaffung von geeigneten Strukturen (z.B. Personal, Finanzmittel, städtisches Büro oder Beauftragte*r für Menschenrechte) für das Mainstreaming der Menschenrechte in alle städtischen Entscheidungen und Prozesse
- der Nutzung von bewährten menschenrechtsbasierten Mechanismen und Instrumenten, durch die menschenrechtliche Standards und Prinzipien in der Arbeit städtischer Einrichtungen verankert werden (Menschenrechtsansatz, Menschenrechtsanalysen und -indikatoren, Menschenrechtsaktionspläne und Menschenrechtsmonitoring)
- einem dynamischen stadtpolitischen und stadtgesellschaftlichen Prozess unter Einschluss von Bürger*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Politik, Verwaltung und zahlreichen weiteren städtischen Einrichtungen.
Wie eine Stadt zur Menschenrechtsstadt wird
Für den Prozess, eine Menschenrechtsstadt zu werden, gibt es keinen Masterplan und keine verbindliche Schrittfolge. Die Initiative kann sowohl aus der Stadtgesellschaft kommen, als auch von städtischen Amts- und Mandatsträger*innen ausgehen.
Der Weg zur Menschenrechtsstadt führt meist zur Mobilisierung einer Vielzahl von Akteur*innen: zivilgesellschaftlich Engagierten, Kommunalpolitiker*innen, Bediensteten der städtischen Verwaltung sowie Menschen in örtlichen sozialen, Bildungs-, Wissenschafts- und Kultureinrichtungen. Oft bildet sich eine Art „Allianz“, die das „Projekt Menschenrechtsstadt“ vorantreibt. Der passende Zeitpunkt für die Erklärung zur Menschenrechtsstadt schält sich mit der Zeit in dem Maße heraus, in dem zwischen den Akteur*innen ein ausreichend klares Verständnis über das entsteht, was man gemeinsam als Menschenrechtsstadt verwirklichen will.
Sensibilisierung und Vermittlung von Wissen über die Bedeutung von Städten für die Verwirklichung der Menschenrechte ist auf dem Weg zur Menschenrechtsstadt besonders wichtig. Städtische Mandatsträger*innen und Behörden müssen ihre menschenrechtliche Verantwortung und ihre menschenrechtlichen Handlungsmöglichkeiten kennen. Die Bewohner*innen der Stadt müssen sich ihrer Rechte bewusst sein, damit sie sich dafür stark machen und auch andere dabei unterstützen, sie in Anspruch zu nehmen.
Die Menschenrechtsstadt darf kein abgehobenes Projekt von Insider*innen sein.
Menschenrechtsstadt zu werden erfordert zudem einen Kraftakt der Kommunikation, wenn möglichst viele „mitgenommen“ werden sollen und die Menschenrechtsstadt kein abgehobenes Projekt von Insider*innen sein soll. Dafür ist ausdauernde Informations- und Überzeugungsarbeit in viele Richtungen unverzichtbar: in die städtische Politik, in die Verwaltung, in viele menschenrechtlich relevante Einrichtungen und Organisationen und insbesondere in die breitere Stadtgesellschaft. Wichtig ist eine positive Kommunikation, die die großen Chancen und Möglichkeiten ins Zentrum rückt, die eine noch engere Verbindung der globalen Menschenrechtsstandards mit den Besonderheiten des lokalen Umfelds eröffnet. Zu den wichtigen positiven Botschaften, die es zu vermitteln gilt, gehört die Kraft der Menschenrechte als „Gegenerzählung“ zu Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und anderen Formen des Extremismus.
Um die Vision von der Menschenrechtsstadt mit Inhalt zu füllen, sind konkrete Projekte wichtig, die einen Mehrwert zu dem schaffen, was es bereits an menschenrechtlich Relevantem und Positivem in einer Stadt gibt. Ein guter Startpunkt sind Aktivitäten, die helfen, Bestehendes noch besser in Wert zu setzen oder in Vorbereitung Befindliches zum Abschluss zu bringen und umzusetzen. Daneben gilt es Projekte zu konzipieren und umzusetzen, die eine neue Qualität haben, neues Terrain betreten und sichtbar eine neue Ambition signalisieren. Potenziell interessante Themen können beispielsweise die Erweiterung bürgerschaftlicher Beteiligungsmöglichkeiten und die Stärkung lokaler Schutz- und Beschwerdemechanismen sein. Ein starker Signalcharakter kann auch von der Entwicklung eines Monitoring-Mechanismus mit Indikatoren ausgehen, mit denen sich der Stand der Verwirklichung einzelner Menschenrechte in der Stadt analysieren und turnusmäßig überprüfen lässt. In bestehenden Menschenrechtsstädten gibt es Vorbilder mit all dem. Auch deshalb ist eine gezielte Vernetzung über die Grenzen der eigenen Stadt hinaus essentiell.
Zentral bei all dem ist die Schaffung einer möglichst starken Verbindung zu den alltäglichen Belangen möglichst vieler Menschen in der Stadt, insbesondere derer, deren Rechte nicht in adäquater Weise verwirklicht sind. Dies bedeutet die Umstände in den Fokus zu nehmen, die viele Menschen in verletzliche Lebenslagen bringen. Damit angesprochene Themen wie soziale Ungleichheit, Armut, Diskriminierung und Ausgrenzung betreffen bei weitem nicht nur einzelne Gruppen und Milieus.